,,Alle politische Macht in der Deutschen Demokratischen Republik wird von den Werktätigen in Stadt und Land ausgeübt.“[i]
Der zweite Artikel der Verfassung der DDR scheint für einen progressiv sozialistisch-demokratischen Staat, geprägt von politischer Partizipation zu stehen. Entsprachen die tatsächlichen Umstände diesem Bild oder war die Realität doch eher von einer in das Private zurückgedrängten, entpolitisierten Gesellschaft gezeichnet?
Als wichtigstes Einflussmittel in Demokratien können Wahlen angesehen werden, da sie über die gewählten Vertreter und Parteien die politische Agenda festlegen. In der DDR wählte der wahlberechtigte Anteil der Bürger (ab dem 18. Lebensjahr) die Volkskammer, welche als Parlament wiederum die Zusammensetzung der Regierung bestimmte. Gewählt wurde über Einheitslisten, auf welchen sich Kandidaten der Sozialistischen Einheitspartei (SED), der weiteren Blockparteien (z. B. CDU, LDPD) und der Massenorganisationen (z. B. Freier Deutscher Gewerkschaftsbund (FDGB)) befanden (alle Teil der Nationalen Front[ii]). Über die Parteien und Massenorganisationen konnten Bürger auf die Listen gelangen und durch ihre Positionen besonders lokalpolitisch (zum Beispiel im Bezirkstag) Einfluss ausüben[iii]. Allerdings trügt der Schein eines demokratischen Systems. Die Listen konnte der Wähler nur annehmen oder ablehnen, sodass die Zusammensetzung der Volkskammer und aller anderen Organe wie der Bezirkstage bereits vor den Wahlen eindeutig war. Auch waren die Wahlen nicht geheim. Wer bei der Wahl der Liste zustimmen wollte, musste den Zettel lediglich falten, sodass das Wählen im Volksmund ,,Zettelfalten“ genannt wurde. Nur ablehnende Personen mussten folglich in eine Wahlkammer gehen, um die Namen der Kandidaten durchzustreichen und konnten aus dieser Handlung folgend mit Konsequenzen wie Bespitzelung durch den Staatssicherheitsdienst rechnen. Dies führte (in Kombination mit Wahlbetrug[iv]) zu Zustimmungsraten von annähernd 100%[v]. Die Entscheidungen über die Listen lagen letztendlich bei der SED[vi], sodass sich hier die Macht, wie in der Verfassung festgesetzt[vii], bündelte. Im System der über die Nationale Front gleichgeschalteten Organisationen ging die Kontrolle von der SED, beziehungsweise in der SED zu einem hohen Anteil vom Politbüro des Zentralkomitees aus, wobei die SED wiederum unter Kontrolle der Sowjetischen Kontrollkommission stand (Stichwort Breschnew-Doktrin). Über die 17.000 Ausschüsse der Nationalen Front war es engagierten Bürgern über parteiliche Aktivität als beispielsweise eines der 2,3 Millionen Mitglieder der SED hinaus möglich, zumindest auf lokaler Ebene Einfluss auszuüben[viii]. Doch der über die Parteien und Massenorganisationen geübte Einfluss der Bürger war auf den ideologischen Rahmen der DDR beschränkt, wobei dies durch die Stasi überwacht werden sollte. In diesem Sinne kann hier nicht von pluralistisch-demokratischer, sondern lediglich systemkonformer Einflussnahme die Rede sein. Trotz der Kontrolle und den möglichen gesellschaftlichen Konsequenzen für nicht konforme Meinungen (zum Beispiel Verwehrung eines Studiums, Ausweisung aus der DDR), kam es durch von Bürgern initiierten Protesten zu politischer Einflussnahme. So führte der Aufstand vom 17. Juni 1953 unter anderem zu der Rücknahme einer Normerhöhung und ist doch gleichzeitig ein Beispiel für den Widerstand des Systems gegen oppositionelle Einflussnahme. Der Aufstand wurde durch die Sowjetarmee niedergeschlagen und in den der Zensur unterliegenden Medien der DDR als von der BRD angestiftet dargestellt. Aus diesen Aspekten ergibt sich, dass die politische Einflussnahme durch die Parteidiktatur der SED beschränkt und in oppositioneller Form nicht gewollt war.
Um die von der SED angepeilte Ordnung des Sozialismus zu realisieren, versuchte der Staat in alle Ebenen des Lebens der Bürger vorzudringen, begonnen bei der Erziehung der Jugendlichen und Kinder, welche in der Freien Deutschen Jugend zu ,,sozialistischen Persönlichkeiten“ erzogen werden sollten. Zu dieser Beeinflussung im Jugendalter zählte zum Beispiel auch die Jugendweihe, welche als Ersatzkultur den kirchlichen Einfluss mindern und ebenfalls den sozialistischen Charakter fördern sollte. Durch die Verstaatlichung der Betriebe und die Entscheidungsgewalt über Bildungsmöglichkeiten und Wohnungsvergabe besaß der Staat effektive Druckmittel gegen die Bürger. Diese wurden im Falle von fehlender Konformität, also beispielsweise bei Engagement in Kirchen, keiner Mitgliedschaft in den Massenorganisationen und Ablehnung der Einheitsliste eingesetzt. Hierüber hinaus mussten die Bürger mit einer Bespitzelung durch den von zahlreichen Mithelfern[ix] unterstützten Staatssicherheitsdienst rechnen. Obwohl diese Kontrolle nicht allumfassend war und die Massenbewegungen am Ende der DDR nicht verhindern konnte, so sorgte sie doch für eine eher kleine Opposition. Die meisten Bürger waren nicht zu politischer Partizipation in der Lage und sahen sich einem ihr Leben entscheidend kontrollierenden Staatsapparat, welcher zudem als ,,Erziehungsdikatur“ wirkte, gegenüber. Hieraus resultiert, dass Systemkonformität eine Bedingung für ein angenehmes Leben darstellte und dementsprechend zumindest oberflächlich eingehalten wurde. Dies führte zu einem Rückzug der Bürger aus dem politisierten öffentlichen Raum in ,,ihre kleinen, privaten Nischen und Verantwortungsräume“[x] – der Rückzug ins Private. Allerdings lässt sich dieser Rückzug nicht nur durch Übermacht und Kontrolle erklären. So spielte neben der Sicherheit im Sinne der überwachenden Stasi besonders soziale Sicherheit und empfundene Geborgenheit eine Rolle. Der Staat versicherte einen Arbeitsplatz, günstigen wenn auch knappen Wohnraum, Krippenplätze und subventionierte Grundnahrungsmittel. Vor dem Hintergrund der gesicherten Lebensumstände und auch einem Gefühl der Solidarität durch Uniformität konnte eine Minderung der individuellen Freiheit hingenommen, beziehungsweise durch den Rückzug ins Private in Nischen wie die Kleingärtnerei und andere Hobbys ausgelebt werden. Der öffentliche Raum bot durch die erwartete und kontrollierte Konformität zu Sozialismus und Partei und den ständigen Wahrheits- und Führungsanspruch von beidem nicht die Möglichkeit der freien individuellen Entfaltung, welche am ehesten im Privaten geschehen konnte. Hier war es beispielsweise möglich, den zensierten Medien der DDR zu entgehen und (wenn man nicht im ,,Tal der Ahnungslosen“ wohnte) politische Informationen über die Westmedien zu erlangen. Der persönliche Fokus lag nicht auf dem als unveränderbar empfundenen System, welches durch die gebotene Sicherheit hingenommen wurde, sondern auf der Gestaltung des privaten Raums. Politisch nicht mögliches Engagement konnte stattdessen in Freizeitbeschäftigungen fließen, wobei dies politische Diskussionen und Systemkritik im Privaten nicht ausschließt. Im Rückzug ins Private waren ,,Fröhlichkeit und Lebenslust, Spaß und Ironie“ möglich und stellten die ,,wichtigsten Waffen im Kampf gegen die diktatorische Anmaßung, das Leben des einzelnen bestimmen zu wollen“ dar[xi].
Bis zu den Massenbewegungen am Ende der DDR gab es abgesehen von einigen Protesten (z. B. der bereits erwähnte Aufstand am 17. Juni 1953) keine oppositionellen Bewegungen von für den Staat bedrohlichem Ausmaß. Zwar war über die Kirchen gewisse oppositionelle Freiheit möglich und es kam während des Fortbestehens der DDR teilweise zur Öffnung gegenüber der westlichen Kultur, durch welche besonders Jugendliche Widerstand zeigten, doch breiter öffentlicher Widerstand war nicht vorhanden. War die DDR also eine entpolitisierte Gesellschaft?
Diese Frage hängt von der Definition von ,,politisiert“ ab. Inwiefern ist Politisierung in den Grenzen eines ideologischen Rahmens möglich? Braucht es Freiheit? Entpolitisierung kann als Entziehen des Politischen aus einem Bereich definiert werden, doch der Alltag in der DDR war maßgeblich von dem von der SED in der Parteidiktatur durchgeführten Sozialismus geprägt. Wie bereits erwähnt sollte es zur Erziehung zum sozialistischen Charakter kommen, sodass durch die immer vorherrschende Systempräsenz eine Politisierung des öffentlichen Raums geprägt von dem Wahrheitsanspruch des Systems stattfand. Allerdings führte diese öffentliche Politisierung verbunden mit beschränkter politischer Partizipation (besonders oppositionell) zu Resignation vor dem Hintergrund des anscheinend starren Systems und drückte den Menschen in seine privaten Räume - der Rückzug ins Private. Politik war meist nur systemkonform möglich, sodass zumindest von durch den Staat gewollter Entpolitisierung im demokratisch-pluralistischen Sinn gesprochen werden kann. Dem entgegen stand unter anderem die Ausbreitung von westlicher Kultur und Ideen zum Beispiel vermittelt durch die Westmedien. Weder eine vollständige Kontrolle noch absolute ideologische Anpassung konnten realisiert werden. Hieraus folgt, dass durch die Politisierung des öffentlichen Raums, die beschränkte Freiheit, geminderte Einflussmöglichkeiten und soziale Sicherheiten der Prozess zu einer zeitweise zumindest oberflächlich größtenteils entpolitisierten Gesellschaft stattfand. Doch auf individueller Ebene - im Denken der Menschen - ist völlige dauerhafte Entpolitisierung besonders vor dem Hintergrund der friedlichen Revolution als unwahrscheinlich zu erachten. Zudem waren die Interaktionen nicht völlig entpolitisiert. Dies zeigte sich unter anderem in ironischen Ausdrücken im Sprachgebrauch wie dem bereits erwähnten ,,Zettelfalten“.
Aus den angebrachten Aspekten folgend kann als Antwort auf die Leitfrage von einer durch mehrere Faktoren in das Private zurückgewichenen Gesellschaft ausgegangen werden, welche demokratisch-pluralistisch entpolitisiert werden sollte und es letztendlich doch nicht vollkommen war.
Quelle zu Kriterien zur politischen Partizipation
Quellen zu den Möglichkeiten politischer Partizipation
Nikolova, Elena: „Die politische Partizipation in der DDR – ein Maßstab für Demokratie?“, GRIN Verlag
Verfassung der DDR in der Fassung vom 7. Oktober 1974, erreichbar unter http://www.documentarchiv.de/ddr/verfddr.html
https://www.bpb.de/izpb/9766/gesellschaft-und-alltag-in-der-ddr?p=all (05.01.19)
Wolle, Stefan: „Die heile Welt der Diktatur: Alltag und Herrschaft in der DDR 1971-1989“, Ch. Links Verlag, 42013
(kann über https://books.google.de/books?id=7b8HAQAAQBAJ&printsec=frontcover aufgerufen werden)
Darüber hinaus als Quellen zum politischen System der DDR genutzt
https://de.wikipedia.org/wiki/Deutsche_Demokratische_Republik (05.01.19)
https://www.wahlrecht.de/lexikon/ddr.html (05.01.19)
https://de.wikipedia.org/wiki/Sozialistische_Einheitspartei_Deutschlands (05.01.19)
https://de.wikipedia.org/wiki/Ministerrat_der_Deutschen_Demokratischen_Republik (05.01.19)
https://www.hdg.de/lemo/kapitel/deutsche-einheit/wandel-im-osten/kommunalwahlen-in-der-ddr.html (05.01.19)
https://de.wikipedia.org/wiki/Volkskammer (05.01.19)
Quellen zu Opposition und Protesten
https://de.wikipedia.org/wiki/Opposition_und_Widerstand_in_der_DDR (05.01.19)
https://de.wikipedia.org/wiki/Aufstand_vom_17._Juni_1953 (05.01.19)
https://www1.wdr.de/mediathek/audio/zeitzeichen/audio-ddr-erhoeht-die-arbeitsnormen-am--100.html (05.01.19)
Quellen zum Rückzug ins Private
Wolle, Stefan: „Die heile Welt der Diktatur: Alltag und Herrschaft in der DDR 1971-1989“, Ch. Links Verlag, 42013 (insbesondere der Prolog)
https://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/uploads/ausstellungen/shortguide_hwdd_a4_final.pdf (05.01.19)
Nikolova, Elena: „Die politische Partizipation in der DDR – ein Maßstab für Demokratie?“, GRIN Verlag
http://www.bpb.de/izpb/9766/gesellschaft-und-alltag-in-der-ddr?p=all (05.01.19)
Diese Quellen dienten auch bei der Diskussion der Leitfrage.
Weiterführend wäre ein Vergleich zwischen der DDR und BRD bezüglich der Demokratie und einer Entpolitisierung interessant. So postulierte Sahra Wagenknecht in einem Interview mit der Welt auf die Frage ob die DDR demokratischer als die BRD gewesen wäre: „Sie war jedenfalls nicht undemokratischer. Es gab zum Beispiel im betrieblichen Bereich mehr Mitbestimmung als heutzutage in den Konzernen. Das politische System war natürlich nicht so, wie ich es mir für ein sozialistisches Land wünsche. Aber auch die Bundesrepublik ist in ihrer Substanz nicht demokratisch. Wenn ein Land sich von einer Minderheit, den Eignern und Dirigenten des großen Kapitals, vorschreiben lässt, welche Prioritäten es setzt, dann hat das mit Demokratie nichts zu tun.“ (siehe https://www.welt.de/print-wams/article612875/Die-Bundesrepublik-ist-in-ihrer-Substanz-nicht-demokratisch.html)
[i] Erster Satz des zweiten Artikels der Verfassung der DDR, abgerufen unter http://www.documentarchiv.de/ddr/verfddr.html
[ii] Die nationale Front war der Zusammenschluss aus Massenorganisationen und Parteien, welcher offiziell für breite politische Einflussnahme, aber de facto für die ideologische Angleichung der Mitglieder unter Leitung der SED stand.
[iii] In den von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur herausgegebenen Texten zu der Ausstellung ,,Die heile Welt der Diktatur“ heißt es zu den Mitgliedern der SED: „Sie wurden in Leitungsfunktionen genötigt“, wobei dies eher die Leitung der Organisation und von Lokalpolitischem betrifft. Quelle: https://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/uploads/ausstellungen/shortguide_hwdd_a4_final.pdf
[iv] Beispielsweise nachgewiesen bei den Kommunalwahlen 1989
[v] Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Volkskammer#Wahltermine_und_amtliche_Ergebnisse für die Ergebnisse der Wahlen
[vi] Die Aufgabe, Listen zu erstellen, lag bei der Nationalen Front als Zusammenschluss der SED, Blockparteien, Massenorganisationen und weiteren Vereinigungen, Gesellschaften und Verbänden, doch die SED war immer entweder Entscheidungs- oder Prüfungsinstanz.
[vii] Siehe Artikel 1 der Verfassung der DDR
[viii] Hauptaufgabe neben der Wahlorganisation war die Integration der Bevölkerung in den Sozialismus
[ix] Die Anzahl der inoffiziellen Mitarbeiter lag in den 1970er Jahren bei über 200.000.
[x] Aus Nikolova, Elena: „Die politische Partizipation in der DDR – ein Maßstab für Demokratie?“, GRIN Verlag, S. 33
[xi] Aus Wolle, Stefan: „Die heile Welt der Diktatur: Alltag und Herrschaft in der DDR 1971-1989“, Ch. Links Verlag, 42013, im Prolog im Abschnitt Glücklich leben in der DDR?
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